Die Drehbogen-Technik

01.12.2010

Mit dem Einbau von Drehbögen kann ein bestehendes Kanalsystem verbessert werden. Das Beispiel Dresden-Leuben bestätigt das.

Freispiegel-Abwasserkanäle sind üblicherweise vermascht und füllen einen Großteil des unter der Straßendecke liegenden Raums aus. Sie sind meist auf eine Sohlentiefe von ca. 5 m fixiert und mit geringem Gefälle verlegt. In Abständen von im Mittel 50 m sind Revisions- bzw. Wartungsschächte angeordnet.
Diese, als Staukanäle angelegten Bauwerke werden in der Funktionskette städtischer Abwasser-Ableitsysteme in Haupt- und Nebensammler unterteilt. So kann ein innerstädtisches Mischwassernetz einer Großstadt durchaus  ein Stauvolumen von mehr als 400.000 m³ erreichen.

Ablagerungen erzeugen oft Überstau

Verringerte Abwassermengen in Trockenwetterzeiten führen zwangsläufig zu erheblichen Sedimentablagerungen. Diese bilden oft Barrieren an Orten, die den eigentlich verfügbaren Stauraum zum Totraum werden lässt. Es sammeln sich Ablagerungen und es bildet sich Fäulnis aus.
Im Umkehrschluss sind verfestigte Ablagerungen auch bei hohem Wassereintrag nicht gänzlich austragbar, vielmehr nehmen  die Ablagerungen ständig zu, weil die steigenden Ablagerungshöhen die Fließgeschwindigkeiten bei Freispiegelabfluss in Zeiten des Normaleintrags verringern.
Im Wechselspiel dieser Vorgänge tritt dann irgendwann der Zustand einer Einengung ein, der dann bei hoher Eintragslage  zwangsläufig zum Überstau führt. Eine Vielzahl von Sonderformen sind im Verlauf der vergangenen 150 Jahre in der Kanaltechnik entwickelt, gebaut und mit mehr oder minder guten Funktionsergebnissen eingesetzt worden. Dies gilt für die Querschnittsformgebung
der Kanäle ebenso wie die Einbauten, die notwendig erschienen, um Abflussvorgänge an ortsgebundene Vorgaben anzugleichen.
Das Entsorgungsprinzip im Sinne hoheitsrechtlicher Aufgabenabwicklung ist in Deutschland im Allgemeinen sehr gut geordnet und geregelt. Allerdings haben sich sehr unterschiedliche Handhabungsmuster entwickelt, die im Verlauf der vergangenen 150 Jahre moderner Abwasserentsorgung auch unterschiedliche Verständnismuster entstehen ließen.
Einmal getroffene Entscheidungen, die zur Ausführung kamen, sind gerade in der Abwasserableittechnik nahezu unumkehrbar. Aus diesem Verständnismuster ist die Entscheidungsträgheit abzuleiten, die sich Neuerungen verschließt.
Nach  16-jährigem Betrieb der ersten Drehbogen-Anlage in Dresden-Leuben möchte der Autor dem Fachmann den Blick für eine erfolgreich angewendete Technik der Neuzeit schärfen, die es ihm erlaubt, das bestehende Freispiegel-Abflusssystem zu ergänzen und weiter zu entwickeln (Bilder 1 und 2).

Funktionsprinzip der Drehbogentechnik

Das Funktionsprinzip der Drehbogentechnik, beruht auf der bogenförmigen Auslenkung eines Freispiegel-Abflusskanals. Wird die Auslenkung um die Kanalachse in die senkrechte Lage verdreht, entsteht eine Staustufe, deren Höhe von Kanalsohle bis zum Scheitel des Bogens etliche Meter betragen kann. Das Prinzip ähnelt der bekannten Klospülung. Auch hier wird eine vorgegebene Spülwassermenge aus einer vorgegebenen Fallhöhe in wenigen Sekunden frei gegeben. Im Betriebsfall des Drehbogens gelten die gleichen physikalischen Grundlagen. Die für einen Spülvorgang nutzbare Menge kann mehr als 1.000 m³ betragen und dabei Spülkräfte entwickeln, die selbst hartnäckige Ablagerungen lösen und austragen können (Bilder 4 und 5).

Geschichte zum Dresdner Drehbogen

Die Idee zum Drehbogen nahm ihren Ursprung Mitte der 80er Jahre in Hamburg. Hier wurde auch die so genannte Sielwolf-Technik entwickelt, eine halbautomatische Kanalreinigungstechnik für Freispiegel-Abflusskanäle ab Klasse IV, bis hin zu den Hauptsammlern, mit Firsthöhen über 3 m. Mit Hilfe dieser Technik wurde Hamburgs innerstädtisches Mischwassernetz in den achtziger Jahren einer Grundreinigung unterzogen.
Die als Halbautomat konzipierte Sielwolf-Technik erforderte trotz aller Hilfsmittel immer noch erheblichen körperlichen Einsatz. Dabei war es auch unerlässlich, im Störfall unter Betriebsbedingungen in die Fluten der Abwässer zu tauchen.
Obwohl das auf 10 Jahre angesetzte Grundreinigungsprogramm bereits nach 5 Jahren abgeschlossen werden konnte, waren die Handhabung der Technik, der Aufwand und die Arbeitsbedingungen auf Dauer gesehen aus Gründen der Humanität und Hygiene schlichtweg nicht zukunftstauglich.
Der hohe technische Aufwand erforderte von der Bedienmannschaft technisches Wissen vom Feinsten. Verbunden mit der Handhabung des Unaussprechlichen war abzusehen, dass selbst bei höchster Entlohnung personelle Engpässe entstehen würden.

Von der Idee zur Realisierung

Hamburg unterstützte ab dem Jahr 1990 die Grundreinigung des Kanalnetzes in der Partnerstadt Dresden. Parallel dazu stellte der  Autor dieses Berichts, der auch Erfinder und Konstrukteur der Sielwolf-Technik ist, den Kontakt zum Hubert-Engels-Institut an der Universität Dresden her (Bild 3).
Hier wurde die Drehbogen-Idee vorgestellt und beschlossen, Laboruntersuchungen durchzuführen. Die Finanzierung übernahm der Autor  mit Unterstützung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt in Osnabrück.
In einem zweiten Schritt der Realisierungsphase wurde der VEB WAB, die heutige Stadtentwässerung Dresden GmbH, eingebunden. Diese  stellte für Versuchszwecke das Gelände des ehemaligen Klärwerks Dresden-Leuben zur Verfügung. Vertragsvereinbarungen regelten die Fortführung des Drehbogen-Projekts, und zwar in der Weise, dass der Autor uneingeschränkter Konstrukteur und Bauausführender der  Drehbogen-Erfindung wurde. Auch die spätere Übernahme der Drehbogenanlage durch die Dresdner Stadtentwässerung GmbH wurde geregelt.
Neuentwicklungen bergen Risiken. Die Risikoabsicherung gegenüber der Stadtentwässerung wurde ohne Rückendeckung geschultert. Damit verbunden waren auch die Übernahme des Baurisikos und eine Funktionsgarantie, die im Versagensfall den Rückbau zu Lasten des Autors zur Folge gehabt hätte.
Nichts, aber auch gar nichts durfte quer laufen. Mit Hilfe guter Mitarbeiter und letztendlich durch die hervorragende Zusammenarbeit zwischen den Partnern – dem Hubert-Engels-Institut, der DWA GmbH und den Genehmigungsbehörden – konnte im Beisein des Präses der Hansestadt Hamburg und des Dresdner Oberbürgermeisters am 5. April 1994 der Welt erster Drehbogen als Pilotanlage in Betrieb genommen werden.

Integrationsbetrieb des Dresdner Drehbogens

Das zu entwässernde Abwasser-Teilnetz befindet sich auf einem etwa 14 km² großen Siedlungsgebiet und umfasst 454 ha reines Abwasser-Ableitgebiet. Das vermaschte Abwassernetz hat eine Gesamtlänge von 46 km. Auf der betrachteten Fläche befinden sich im  Wesentlichen parzellierte Gartenanlagen mit Dauerbewohnung und einer Wohnbebauung mit Einzelhäusern. Die Siedlung entspricht einer  vorstädtischen Bebauung. Weiterhin sind an das Netz Produktionsbetriebe der Lebensmittelindustrie und kleinere Betriebe angeschlossen.
Vom 27. März 1995 bis einschließlich 7. April 1995 wurde erstmals das Mischwasserteilnetz in Dresden-Leuben im Rahmen eines Integrationsbetriebs mit Hilfe der Drehbogen-Technik unter Volllastbedingungen erprobt.
Die alles entscheidende Fragestellung war: Was würde unter Volllastbedingung geschehen, wenn die gespeicherte Energie der Lage von  ca. 800 m³ Abwasser aus einer Stauhöhe von 1,8 m in einem in Minuten zählendem Zeitfenster sich im Mischwasserkanal Bahn bricht?
Der Mischwasserkanal des ehemaligen Klärwerks von Dresden-Leuben hatte eine Ablagerungsbefüllung von mehr als 60 %. Das Besondere war, dass üblicherweise, selbst bei geringen Niederschlagsereignissen, ein Überstau eintrat. Ein Ärgernis hohen Ausmaßes.
Mit gezielten Spülstößen, zunächst mit geringer Stauhöhe und entsprechend geringer  Wassermasse, gesteigert bis zur Volllast, wurde  die mit akkumulierter Energie im Oberstrom angereicherte Abwassermenge frei gesetzt. Im Ergebnis konnte der Kanal bei normaler Wetterlage ohne Fremdwasser gespült und sohlenfrei gereinigt werden.
Innerhalb des siebentägigen Integrationsbetriebs gelang es, die gesamten Ablagerungen aus dem 690 m langen Kanal auszutragen (DN 1200, Kreisprofil). Allerdings stellte sich nach der Reinigung heraus, dass der Abflusskanal erhebliche Leckagen an den Stoßdichtungen aufwies, hingegen die Bausubstanz aus Beton trotz des Alters von 80 Jahren keine sichtbaren Schäden erkennen ließ.
Eine Besonderheit ist nachzutragen: Der Beweis der Verstopfungsfreiheit von Drehbögen konnte damit erbracht werden, dass eine Anstellleiter von 3 m Länge, die versehentlich im Oberstrom vor der Drehbogenanlage zurückgelassen wurde, vom Spülstrom erfasst und durch den Drehbogen hindurch, ausgeschwemmt wurde.

Erfolgreiche Sanierung

Der Mischwasserkanal, heute als Drehbogen-Kanal bezeichnet, wurde im Jahr 2008/2009 nach dem Schlauchlining-Verfahren saniert. Ein  für Sanierungsprojekte dieser Art vorzügliches und preiswertes Verfahren. Das wwt-Praxismagazin berichtete in der Ausgabe 3/2009 über den Sanierungsverlauf.

Fazit: Drehbogen hat Test bestanden

Mit  der  Entwicklung  des  Drehbogens wurde in der Abwasserableittechnik erstmals ein Weg aufgezeigt, der nach sechzehnjährigem Betrieb ohne die geringsten Verschleißbeanstandungen ein wirkliches Novum darstellt.
Die  hydrophysikalischen  Vorgänge  mit all ihren Nebenerscheinungen sind konsequent beachtet worden. Das Wissen um die Wechselwirkung chaotischer Betriebsvorgänge, in Verbindung mit einem langen und zuverlässigen Gebrauch hat Konstruktionsmerkmale entstehen lassen, die abseits eingefahrener Fertigungsnormen entwickelt wurden. So wurden beispielsweise die Dichtungselemente einer probeweisen Wechselbelastung ausgesetzt, die einem 500-jährigen Betrieb entsprachen. Es kamen die Vorgaben des Schiffbaus nach den Richt linien des Germanischen Lloyd zur Anwendung.
In besonderer Weise fanden die erforderlichen betriebstechnischen Vorgänge Eingang in das Ausführungskonzept. Die Betriebsvorgänge finden ohne Querschnittseinengungen statt. Sofern Wartungsarbeiten oder Überwachungskontrollen am Aggregat stattfinden, ist jedes
Element außerhalb umspülter Abwässer im gasfreien Raum ergonomisch angeordnet. Auch im Versagensfall ist ein freier Abfluss ungehindert möglich, womit die gesetzlichen Vorgaben in Gänze erfüllt werden.

Ausblick: Der Bogenregler

Ein weiterer Schritt in die Zukunft wäre es, mit Hilfe der Drehbogen-Technik einen Freispiegel-Abflussregler zu entwickeln. Die Abflusssicherheit ist nicht nur von der Netzverfügbarkeit abhängig. Vielmehr ist gleichwertig zu sehen, dass nur dann der optimale  Betriebspunkt und damit die Sicherheit des Abwassernetzes erreicht ist, wenn im  Moment eines Eintragereignisses an einem beliebigen Eintragsort ohne Zeitverzug der ungehinderte Abflussvorgang eingeleitet wird.
Die Begriffsbestimmungen zwischen der Regelungstechnik und der Steuertechnik sind in der DIN 19 226 festgelegt. Hiernach entstand der Bogenregler, Mit dem eine Systemautomatisierung möglich wird.
Damit sind eine erheblich verbesserte Stadthygiene, einfachere Arbeitsbedingungen im Umgang mit der Freispiegel-Kanalisation, erhöhte  Betriebssicherheit und ein verbesserter Umweltschutz erreichbar. Außerdem werden aufgrund des dynamischen Abflusses der Abwassermassen und der ständigen Reinigung viele schädliche Umsetzprozesse im System verhindert. Daraus resultiert eine verlängerte Lebensdauer der Systeme.
Fäkalentsorgung unterliegt oft menschlicher Ablehnung, dies ist im Bewusstsein der Menschen tief verankert. Daraus ergibt sich das  „unberührbare  Element“, das zukünftig mit der Automatisierung der Freispiegel-Ableittechnik entschärft werden kann. Die Suche nach einer einfachen Technik, die letztlich zum Bogenregler führte, war geprägt von einer Vielzahl von Entwicklungsstufen. Als Ergebnis  dieser Arbeit verfügen wir heute über eine Regeltechnik, die in ihrer Anwendung für Freispiegel-Abflusskanäle weltweit genutzt werden kann.

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